Ein Augenblick meines Tansania-Aufenthalts wird mir immer in Erinnerung bleiben: Nach dem allerersten Fußballtraining gehen die 15 oder 20 Kinder und ich auf dem schmalen Feldweg zurück zum Waisenhaus. Ich bin in einem fremden und auch fremdartigen Land, die Sonne brennt gnadenlos, ich habe großen Durst. Ich kenne die Kleinen nicht, sie kennen mich nicht. Trotzdem wirkt alles absolut vertraut und harmonisch, wie selbstverständlich. Wir reden und scherzen miteinander, in welcher Sprache auch immer. Zwei Kinder haben meine Hände ergriffen und drücken sie ganz fest, damit sie mich auch ja nicht verlieren. Ich hätte in diesem Moment am liebsten laut losgejubelt, so glücklich und erleichtert war ich, dass alles gut gegangen ist. Und mit “alles” meine ich nicht nur dieses erste Fußballtraining mit den begeisterten Kindern, von denen ich später in diesem Blog immer als “meine Kinder” reden würde. Nein, damit meine ich den reichlich naiven Lebenstraum, eines Tages in Afrika mit Waisenkindern Fußball zu spielen. Ich hatte für diesen Traum alles auf eine Karte gesetzt, und er hat sich tatsächlich erfüllt, vollkommen positiv, ohne jeglichen negativen Beigeschmack. Das wurde mir in diesem Moment klar. Ein Moment, wie er im Leben nur ganz, ganz selten vorkommt.
Viele andere Dinge weiß man dagegen erst allmählich oder später richtig zu würdigen. Die unglaubliche Freundlichkeit meiner NAFGEM-Kollegen etwa. Honoratha kümmerte sich einfach um alles, vom Internetstick für mich und dessen Installation über das Aufladen des Kameraakkus im Elektroladen bis hin zum Kauf eines Badehandtuchs oder auch um Hotelbuchungen zum angemessenen Preis. Manchmal war sie geradezu wie ein Zivi für mich. Das machte die Eingewöhnung und das Wohlfühlen – kurz: den Alltag – so viel leichter. Mein Boss Francis, der die Herzlichkeit in Person ist. Meine liebe Bürokollegin und tiefgläubige Priestertochter Asifiwe, die anfangs sehr brav war, aber schon bald jeden noch so derben Scherz mitmachte. Ich habe sie bekehrt, knickknack.
Gleichwohl steht NAFGEM nicht nur für Menschlichkeit, sondern in dem, womit sich die Organisation beschäftigt – Genitalverstümmelung bei Babys, Mädchen und Frauen -, auch für Unmenschlichkeit. Vor meinem Freiwilligeneinsatz wusste ich nicht wirklich, was Genitalverstümmelung genau bedeutet. Heute kann ich sagen: Es gibt wenig Schlimmeres, was einem Menschen angetan werden kann.
Das ist Folter, eine bewusste lebenslängliche Verstümmelung, das Absprechen von Menschenrechten und vieles andere Grausames mehr. Ich habe es schon einmal geschrieben: Mit Kultur und Tradition braucht mir hier niemand zu kommen, wirklich nicht. In Wahrheit geht es um Geld und darum, Frauen zu unterdrücken. Trotz des Kampfs gegen Windmühlen: Für die Begegnungen, welche sich geographisch auf ganz Nord-Tansania erstreckten, und die Erkenntnisse im Rahmen der Tätigkeit bei NAFGEM bin ich sehr dankbar!
Ein Afrika-Klischee kann ich im Zusammenhang mit NAFGEM gleich entkräften: Hier sind alle Menschen faul und es wird nicht gearbeitet. Falsch! NAFGEM hat ausnahmslos von 8 bis 17 Uhr geschuftet. Und wenn es doch eine Ausnahme gab, dann wegen Überstunden oder Wochenenddienst. Kenne ich von irgendwo her. Und wie hart die Arbeit der Kaugummi-, Brennholz- oder Obstverkäufer ist, kann wohl nur derjenige ermessen, der jemals in Staub und sengender Sonne gestanden und immer gleichbleibend freundlich Passanten angesprochen hat, um ein paar Cent fürs absolute Überleben zusammenzukratzen.
Weiter mit den Klischees. In Afrika bzw. Tansania sind die Leute unzuverlässig und unpünktlich. Falsch! Alles Zugesagte wurde mir gegenüber eingehalten, oftmals kamen meine “einheimischen” Verabredungen vor mir zu den Treffs.
In Afrika bzw. Tansania laufen die Leute in Lumpen herum. Falsch! Es war geradezu grotesk, aber ich kam mir selbst in langer Hose, T-Shirt und Lederschuhen immer “underdressed” vor. Beinahe alle Männer tragen lange Hosen, viele dazu ein Hemd. Vielleicht ist es auch eine Frage der Ausstrahlung, des Anmuts, des Stolzes? Jedenfalls: Wenn überhaupt jemand lächerlich aussah, dann waren es die Weißen in ihren Shorts. Die tansanischen Frauen sind eh außer Konkurrenz und meiner Wahrnehmung nach geradezu perfekt gekleidet (Vorsicht, Klischee!). Bleiben die gelegentlichen Löcher in den Schuluniformen der Waisenhaus-Kinder. Soll bei Kindern vorkommen.
In Afrika bzw. Tansania wird man als Weißer ständig übers Ohr gehauen. Das ist eher richtig als falsch! Es ist schade, aber bei allem, was mit Geld zu tun hat, leuchtet bei einem im Kopf automatisch die Warnlampe grell auf. Uns Weißen eilt hier der Ruf voraus, unermesslich reich zu sein (was im Verhältnis zum hiesigen durchschnittlichen Monatseinkommen ja auch irgendwie stimmt). Daraus ergibt sich dann oft eine phantasievolle Preisgestaltung. Preisauszeichnung auf der Ware ist selten, und so wird für alle Nicht-Schwarzen kräftig draufgeschlagen. Weil es aber kein schönes Gefühl ist, abgezockt zu werden, bleibt ein schaler Beigeschmack, auch wegen des ermüdenden ständigen Handeln-Müssens.
Zum Glück gar kein Klischee sind die Herzlichkeit der Menschen. Das ist auch etwas, das ist nie vergessen werde. Es fällt hier so leicht, Menschen in die Augen zu schauen, ihnen die Hand zu geben, mit ihnen Smalltalk zu führen, und es ermüdet auch nach fast zehn Wochen Tansania nicht. Trotz des brutalen Raubüberfalls auf eine Mit-Volontärin glaube ich nach wie vor an das Gute im Menschen. Oder anders gesagt: Was würde ein Tansanier schreiben, der nach Deutschland kommt? Könnte nicht auch der überfallen oder abgezockt oder gar Opfer rassistischer Pöbeleien werden? Ja, und es wä re ohne jede Verharmlosung die absolute Ausnahme, glaube ich.
Die Menschen sind in der Mehrzahl gut – ob in Moshi oder in München. Und darauf vertraue ich auch bis zum Beweis des Gegenteils. Bisher ist dieser Beweis nicht erbracht worden.
Über die großartige Natur in Tansania verliere ich keine großen Worte. Das muss man einfach gesehen und erlebt haben: gewaltige Berge wie der Kilimanjaro und der Mount Meru, Nationalparks wie der Ngorongoro-Krater, Arusha und Tarangire (bestimmt auch die Serengeti, doch die war mir zu teuer), die grandiose Fauna von saftigen Plantagen bis hin zur kargen Steppe, die phantastische Tierwelt. Das Gewürz-Paradies Sansibar ist, sagen wir , in Ordnung. Ich sitze gerade auf der Terrasse unserer Strandvilla und sehe beim Hochblicken das, was gemeinhin unter dem Begriff “paradiesisch” verbucht wird: einen einsamen, weißen Unendlich-Strand und dahinter das türkisfarbene Meer. Nur: Dafür bin ich nicht hergekommen. Zumal es das auch auf Baltrum und Fehmarn gibt, soweit ich mich erinnere.
Ich schließe mit einer Erkenntnis und einem Dankeschön.
Die Erkenntnis: Geht nicht gibt’s nicht. Alles ist möglich! So wie Fußballspiele auch noch in der 91. Minute gewonnen werden können, ist es nie zu spät, im Leben das Schicksal aus eigenen Kräften zum Guten zu wenden. Dieses eine Leben ist zu kurz, um für “Werte” wie ein Berufsleben im Highspeed-Hamsterrad wahre Luxusgüter wie Gesundheit, Zufriedenheit und die Beziehung aufs Spiel zu setzen. Wer sich wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn durchs Leben bewegt, den Crash vor Augen, kann selbst noch im letzten Moment das Steuer herumreißen – und es kann definitiv nur besser werden. Allerdings: Dieser letzte Moment kommt viel schneller, als man denkt, fürchte ich, und zu lange sollte man mit dem Herumreißen des Steuers nicht warten. Aber selbst ohne diese melodramatische Facette kann ich nun sagen, wie einfach es ist, Träume wahrzumachen. Die Welt ist so klein, nicht nur wegen des Internets. Ab ins Flugzeug, fertig. Ehrlich, so einfach ist das. Träume wollenkönnenmüssen gelebt werden.
Das Dankeschön: Danke für die vielen herzlichen Kommentare hier im Blog, E-Mails und SMS. Sie haben mir gezeigt, was Heimat und Zuhause, was Freundschaft bedeutet. Danke an meinen Homepage-Designer und -Betreuer Denny Lang für seine schier unendliche Geduld, gerade in den ersten Wochen meines Tansania-Aufenthalts, wo aus technischen Gründen jeder Blogbeitrag, jedes Hochladen eines Fotos eine echte Geduldsprobe war – auch für ihn. Danke an Chris und Adelina von World Unite, die mich an NAFGEM und Tuleeni vermittelt und optimal betreut haben. Danke an die Mit-Volunteers in Moshi für die vielen schönen Stunden im “Deli Chez”, in der “Macumba Bar”, im “Malindi Club”, an obskuren Wasserlöchern, in ganz und gar nicht obskuren Nationalparks oder Kaffeefarmen, beim irgendwie legendären “Urafiki Cup” und dort für die Essenausgabe an hunderte Hyänen. Insbesondere geht dieses Dankeschön an Marei und Lisa, die von Anfang an (also seit unserer ersten Begegnung im “Coffee Shop”) immer dabei waren. Hoffentlich sehen wir uns wieder.
Und schließlich danke ich meiner Frau Anna. Sie hat meine Pläne und Träume von Anfang an vorbehaltlos unterstützt. Ohne diesen Griff in das “Lenkrad unseres Lebens” wäre der Crash unausweichlich gewesen. Denn, so unwahrscheinlich es klingt, manchmal will man einfach nicht wahrhaben, dass man sich auf der Gegenfahrbahn befindet.
Und in Zukunft? Nach zehn Wochen ohne Chips und mit insgesamt nur je einem “Mars” und einem “Bounty”: weniger Süßigkeiten. Nach zehn Wochen ohne Fernsehen: weniger Trash à la der bislang täglich von mir gelesenen Bild-Zeitung und RTL. Mehr wirklich Wichtiges. Mehr leben, mehr genießen, mehr Verantwortung übernehmen. Vielleicht bei der Aktion Sternstunden und darüber regelmäßig mit Kindern Fußball spielen. Oder mittels der geplanten Homepage für das Tuleeni-Waisenhaus in Moshi Dinge zum Guten verändern. Schau’n mer mal.