Et hätt noch immer jot jejange

Ein Wort aus dem Kisuaheli-Unterricht werde ich nie mehr vergessen. Es ist leider nicht so wohlklingend wie Wimbo (Lied), Kuku (Hühnchen), Tango (Gurke) oder Bata (Ente). Nein, wenn dieses ominöse Wort genannt wird, drehen sich die Amerikaner zu mir, dem Jerumani, dem Deutschen, um und grinsen frech. Dabei ist es nur das Wort für Kokosnuss. Es lautet auf Kisuaheli: Nazi.

Anfangs war es noch lustig, vor allem, wenn ich danach mit verstellter Stimme weitergesprochen habe. Inzwischen sähe ich die Amerikaner gern an Bord des nä chsten Rosinenbombers Richtung Home, sweet Home.Womöglich ist das aber nur Neid. Denn die vier Amis sind auf jede Stunde perfekt vorbereitet und stellen Grammatik-Fragen, bei denen ich noch nicht einmal die Vokabeln verstehe. Geschweige denn die Grammatik.

Rätsel gibt auch das Wetter auf. Die Regenzeit hat einen Monat früher begonnen als erwartet, es gießt seit Tagen in einem durch. Aus den Staubpisten sind Schlammbahnen geworden. Die Fahrt im Daladala dauert noch länger als sonst, und da alle zwangsläufig massig Schlamm an den Schuhen haben, ist es ein großer Fehler, eine helle, schmutzempfindliche Hosen zu tragen. Den Fehler habe ich nur einmal gemacht. Jetzt, wo ich diese Worte schreibe, sitze ich in Badelatschen am Schreibtisch, die ich leihweise vom Schuhputzer unten vorm Büroeingang bekommen habe. Dieser schlägt sich gerade mit meinen schlammbraunen Lederschuhen herum.

Der Regen bringt aber noch weitere Probleme mit sich. Zum Beispiel werden die Unterhosen und Socken, die ich gestern Abend von Hand gewaschen und auf die Leine gehängt habe, wohl kaum trocknen. Das ist blöd, weil ich ALLE Unterhosen und Socken waschen musste (bis auf jene, die ich trage) und wir am morgigen Feiertag mit ein paar Leuten im Arusha Nationalpark auf Safari und wandern gehen wollen.

Wetterproblem, das dritte: Für Arusha sind in den nächsten Tagen starker Regen und Sturmböen angesagt. Der gesamte Spaß – Freitag Safari, Samstag Wandern am Mount Meru im Nationalpark – kostet 200 Dollar pro Person. Die anderen Mitreisenden sind Studentinnen; sie überlegen sich gerade, ob es angesichts der Wetterprognosen (und überhaupt) das Geld wert ist. Was mich wiederum zu der Überlegung bringt, ob es dann die tagelange Herumtelefoniererei und Organisation wert war, wenn alles einen Tag vorher abgesagt wird. Wir diskutieren das beim Mittagessen.

Das Mittagessen wird eine große Runde. Dahinter verbirgt sich eine wirklich tolle Geschichte, die mich die nächste Woche ordentlich auf Trab halten wird. Denn für nächsten Samstag, 22. Oktober, organisiere ich gemeinsam mit Meshack, einem 24-jährigen Einheimischen und Gründer eines Jugendtreffs, einen “bunten Nachmittag”. Dieser Nachmittag beinhaltet ein Fußballturnier mit 12 Waisenhaus-Mannschaften, ein Fußballfreundschaftsspiel zweier Teams von Jugendtreffs sowie mittendrin einen großen “Showblock” mit Tanz, Gesang, Akrobatik und Schauspiel der Waisenhaus- und Jugendtreffkinder. Darauf bin ich besonders gespannt. Meshack und seine Schützlinge studieren Vorführungen ein, zum Beispiel etwas mit Trommeln und Tanz (soviel habe ich schon herausgefunden), die Tuleeni-Kinder singen etwas vor, und dann schicken zwei Waisenhäuser zwei Mädchen, die angeblich schon in den USA waren mit ihrer Nummer – sie sind Springseil-Profis! Was auch immer das ist – klingt toll, oder?

Ich erhoffe mir von den Nachmittag gleich mehrere Dinge: Dass Meshack und Amani, die beiden Jugendtreff-Leiter, in Zukunft etwas gemeinsam auf die Beine stellen. Beide sind sehr jung, sehr engagiert und haben tolle Visionen. Während Meshack Bewegung (Tanz, Akrobatik) als pädagogischen Ansatz wählt, hat sich Amani der Aids-Aufklärung verschrieben, für die er seine Kinder sensibilisiert und in die er sie als “Botschafter” einbindet. Außerdem erhoffe ich mir, dass die Waisenhaus-Kinder das “Leben da draußen” mitbekommen und diese Veranstaltung für sie eine Art Initialzündung ist, sich für eine Sache oder etwas Künstlerisches zu begeistern. Und schließlich würde es mich freuen, wenn die Volontäre, die länger hierbleiben als ich, Nachmittage wie diesen fortführen. Denn bislang wurschtelt jeder in seinem eigenen Projekt vor sich hin.

Nun ist auch klar, warum unser heutiges Mittagessen in größerem Rahmen stattfindet – ohne die Hilfe der anderen Volontäre ist der ganze Nachmittag nicht zu stemmen. Meshack bringt allein 100 Kinder mit, ich rechne mit weiteren 200 Kids, die Fußball spielen, etwas vorführen oder einfach nur so kommen. Die nächste Woche wird also davon geprägt sein, für mindestens 300 Leute Essen und Getränke zu besorgen, Thekenhilfen und Schiedsrichter einzuteilen, Musik und Mikrophon zu leihen, Pokale aufzutreiben und, und, und.

Womit wir wieder beim Wetter wären. Das ist nicht planbar. Doch bislang bin ich in Tansania mit der kölschen Weisheit “Et hätt noch immer jot jejange” bestens gefahren. Warum nicht auch diesmal?

Bildungsreisen

Danke für die vielen freundlichen Kommentare und Mails. Gerade komme ich aus dem Kilimanjaro-Hospital zurück. Das Ergebnis vom Malaria-Schnelltest (kostet 1 Euro) ist negativ. Also habe ich eine Lebensmittelvergiftung oder -unverträglichkeit, denke ich. Das kann schon mal passieren. Auch wenn es insofern blöd ist, als dass die ganzen unschönen Begleiterscheinungen samt Fieber vermutlich auf ein Essen zurückzuführen sind, das Köchinnen zubereitet hatten. Und die sollten schon wissen, dass Tomaten und Gurken abgewaschen werden müssen.

Aber es hätte definitiv schlimmer kommen können: Letzten Donnerstag wurden laut “Daily News” im Sumbawanga District zwei 62-jährige Zwillingsbrüder gelyncht. Der Mob machte sie dafür verantwortlich, einen 30-Jährigen verhext zu haben. Dieser sei plötzlich krank geworden, habe Blut gespuckt und ist am nächsten Tag gestorben. Und daran waren – warum auch immer – die beiden Brüder Schuld. Der Glaube an Hexerei (“Witchcraft”) ist in manchen ländlichen Gebieten noch immer verbreitet. Er wird auch gern genutzt, um unliebsame Personen aus dem Weg zu räumen. Einfach der Hexerei beschuldigen, aus die Maus. Doch bevor es zu klischeehaft wird, berichte ich lieber von meinen letzten, sehr “westlichen” Erlebnissen.

Das Wochenende startete am Freitagabend mit entspanntem Badevergnügen im kleinen, zumeist flachen Pool des Impala Hotels. Dorthin hatten mich Liz aus Devon, England, und Megan aus Vancouver, Kanada, eingeladen. Die beiden gehen mit den Tuleeni-Waisen einmal in der Woche schwimmen. Wobei: “Schwimmen” trifft es nicht ganz. Eher platschen. Denn schwimmen kann keines der Kinder. Da sich der Taxifahrer wider Erwarten weigerte, sein Auto mit 13 Personen zu be- und überladen, fuhren wir zu neunt los, drei Erwachsene, sechs Kinder. Auch nicht ganz im Sinne der (deutschen) Straßenverkehrsordnung. Zwei der Kinder hatten einen Schwimmreifen und ein Paar Schwimmflügel. Für den Rest war im Wasser Stehparty angesagt. Zum Glück hatte ich einen Luftballon zum Herumalbern mitgebracht. Leider wurde den Kindern (und auch uns Erwachsenen) ziemlich schnell kalt, und so endete der Abend bald bei Kakao und Bier. Fazit: viel Aufwand, wenig schwimmen.

Am Samstag durfte ich das größte Krankenhauses der Stadt besuchen, das Kilimanjaro Christian Medical Centre, kurz KCMC. Dort ist Dr. Günter Kohler als Krankenhaus-Seelsorger tätig. Seine Frau Maja Kohler, Sozialarbeiterin, hatte ich kennengelernt, als sie NAFGEM besuchte. Wir mochten und mögen uns sehr, so entstand die Idee des “Gegenbesuchs”. Freundlicherweise durfte ich hierzu die Volontärinnen Marei, Lisa, Tabea und Marion mitbringen. Zuerst frühstückten wir gemeinsam und stellten einander vor. Dabei erfuhren wir, dass die Kohlers seit über zwei Jahrzehnten dem Land Tansania eng verbunden sind. Dr. Günter Kohler ist Pfarrer im Ruhestand und leitet nun im Auftrag der “Mission EineWelt” die Seelsorgerausbildung am KCMC. Außerdem engagieren sich die beiden intensiv in der Aids-Aufklärung und -Prophylaxe in der Massaisteppe.

Auf die Führung war ich sehr gespannt. Ich wusste bereits, dass Patienten teilweise auf dem Flur liegen und die “Zustände” weit entfernt sind von dem, was einen in Hamburg-Eppendorf oder München-Großhadern erwartet. Dr. Kohler führte uns durch alle Stationen. Ja, es lagen Menschen auf den Fluren, die offenbar frisch operiert waren. Von Privatsphäre hier keine Spur. Das gleiche gilt für so manches Krankenzimmer, wo die Betten “eng an eng” standen. Andererseits gab es auch Stationen wie die Kinderabteilung, die Neugeborenenstation oder auch die Urologie, welche ich als völlig “normal” empfand.

Ohnehin war das 450-Betten-Krankenhaus für mich sauber und für hiesige Verhältnisse sehr vertrauenwürdig. Trotz eines Patientens auf dem Flur und im Streckverband. Kommentar Dr. Kohler: “Einen Streckverband hatte ich zuletzt 1947.” Auch Lisa, ausgebildete Krankenschwester und hier in Moshi Volontärin in einem anderen Krankenhaus, empfand den Stand der Technik als alles andere als modern. Dazu passt, dass die Miele-Waschmaschinen seit Ewigkeiten (vermutlich seit der Eröffnung des KCMC 1971) nicht mehr funktionieren und die gesamte Krankenhauswäsche seither mit viel Improvisation gewaschen und getrocknet wird. Oder auch der Umstand, dass selbst dieses große Krankenhaus personell völlig unterbesetzt ist. Lakonisches Fazit Dr. Kohler: In Deutschland würde dieses Krankenhaus noch heute geschlossen. In Tansania ist es eines der besten des Landes.

Zwei Dinge an seiner Arbeit sind für Dr. Kohler charakteristisch: Dass die Menschen hier viel gläubiger als in Deutschland seien und ganz häufig mit ihm beten wollten. Und dass seine praktische Tätigkeit zu einem großen Anteil gar nicht in der Seelsorge bestehe, sondern darin, Operationen und deren Finanzierung zu organisieren. Denn hier hat alles seinen (in diesem armen Land im Zweifel astronomisch hohen) Preis, von Röntgen bis zum schnelle(re)n OP-Termin. Und so berät Dr. Kohler so manches Mal mit verzweifelten Patienten, wer aus der Verwandschaft finanziell aushelfen könnte.

Die anderen Volontäre und mich hat sehr beeindruckt, wie positiv das Ehepaar Kohler mit dem Leid umgeht, dem es begegnet, und wieviel Kraft und Leidenschaft sie in ihr persönliches Engagement (wie die Aids-Aufklärung) investieren. Ich bin mit den beiden so verblieben, dass sie mir von aktuellen Notfällen berichten sollen. Geschieht das, komme ich gern auf die freundlichen Hilfs- und Spendenangebote aus dem Freundes- und Bekanntenkreis zurück. Denn hier wird Hilfe dringend gebraucht – und von dem Seelsorger-Ehepaar “eins zu eins” weitergegeben, davon konnte ich mich überzeugen.

Am Sonntag sind wir in der gleichen Besetzung zu einer Kaffee-Kooperative an den fruchtbaren Hängen des Kilimanjaro gefahren. In dieser wunderschönen Umgebung 1.450 Meter über dem Meeresspiegel genossen wir eine didaktisch perfekt gemachte Kaffeeplantagentour – vom gemeinsamen Pflücken der Kaffeebohnen über das Reinigen und mehrfache Schälen bis hin zum Stampfen und Aufgießen bereits getrockneter Bohnen. In der 2005 gegründeten Kooperative haben sich drei Dörfer zusammengeschlossen und ihr Angebot nach und nach touristengerecht ausgedehnt – also neben der reinen Kaffeeproduktion auch ein Restaurant sowie Zelte und andere Übernachtungsmöglichkeiten errichtet. Ein Kilo Kaffeebohnen bringt der Kooperative 2 Euro im Verkauf. Außerdem fließt ein “Fair-Trade-Euro” je Kilo nach dem Verkauf des Endprodukts an die Kaffeebauern zurück – das Fair-Trade-System funktioniert also tatsächlich. Wieviel Aufwand damit allerdings auch verbunden ist, zeigt eine andere Zahl: ein Jahr dauert es “von der Bohne zum Becher”. Dass sich Aufwand und Geduld gleichwohl lohnen, davon konnten wir uns beim Probieren des frisch gemahlenen Kaffees überzeugen. Lecker!

Als Randnotizen sind noch zwei Dinge zu erwähnen. Der Daladala-Fahrer auf dem Rückweg nach Moshi war so betrunken, dass er beim Einsteigen schwankend gegen die geschlossene Fahrertür lief. Warum auch immer, wir sind trotzdem sitzen geblieben. Und zweitens war dann da ja noch die Sache mit dem ungewaschenen Salat. Nun, wo es keine Malaria ist und es mir besser geht, kann ich dem Ganzen sogar etwas Positives abgewinnen: Eine Kollegin hat heute gesagt, dass mich die Erkrankung dünner gemacht habe. Komisch, das Gleiche erwähnte auch Peter aus Hamburg in seiner Mail gestern als möglichen positiven Aspekt. Bin ich etwa zu dick…?

 

Vom Beet ins Bett

Ich kann schon verraten, wovon der kommende Blogeintrag handelt. Etwa vom Schwimmengehen am Freitag mit Kindern, die nicht schwimmen koennen. Von dem hoechst eindrucksvollen Besuch im groessten Krankenhaus der Stadt, dem KCMC. Dort wurden wir vom Klinikseelsorger Pfarrer Dr. Guenter Kohler durch alle Abteilungen gefuehrt. Und von der Kaffeetour gestern in einer Kooperative am Fuss des Kilimanjaro. Besser kann man eine Kaffeetour nicht gestalten.

Aber: Man haette zum Beispiel die Gurken und/oder Tomaten, die es zum Mittagessen gab, besser abwaschen koennen. Oder ein Moskitonetz ohne grosse Loecher waere auch nicht schlecht.  So geht es mir seit gestern Abend miserabel und ich mache mich erstmal auf den Weg zum Malariatest, dann nach Hause ins Bett. Wenn ich wieder fit bin, kommt mein BerIcht..

Seitenliniendespoten

Ich wollte nie so sein, nun stelle ich mit Erschrecken erste Symptome fest. Einer jener fanatischen Fußball-Betreuer, die zu allem ihren Löwensenf dazugeben und permanent so angespannt sind wie der zweitoberste Blusenknopf der Katzenberger. Bei gelungenen Aktionen ihrer Kinder führen sie an der Seitenlinie bambiartige Bocksprünge auf – allerdings ein Bambi, das in einer Fernost-Internetapotheke was Experimentelles bestellt hat. Verspringt ein Ball oder ist ein Kind zu eigensinnig, drohen diese Mannschaftsbetreuer mit schneidender Stimme à la Frau “Heidi” Rottenmeier dann Sanktionen an, für die in der Regel Kriegsverbrecher-Tribunale anberaumt werden (komischerweise immer erst, wenn’s zu spät ist).

Diese furchteinflößenden Erwachsenen gehörten zu meiner F- bis A-Jugend-Fußballzeit wie Robby Bauer zu den Teens und die ZDF-Weihnachtsserie zu Weihnachten. Was ihnen offenbar nicht klar ist: Von dem Reingebrülle aufs Spielfeld profitieren zumeist nur die Gegner, gerade bei Kritik. Es ist wie mit cholerischen Chefs. Ich habe noch nie einen Angestellten gesehen, der nach der Hinrichtung vor versammeltem Kollegium verständnisvoll seinen Kopf aus dem Korb unter der Guillotine aufgesammelt hat und fortan fehlerfrei, maximal effizient und hoch motiviert über den Fußballplatz, pardon, durch das Büro marschiert ist.

Bevor jetzt Stimmen nach der Super-Nanny für Jugendtrainer laut werden, komme ich endlich zur Sache. Gestern Nachmittag stand das zweite große Fußball-Highlight mit meiner Tuleeni-Waisenhaus-Mannschaft auf dem Kalender: das Rückspiel beim Kilimanjaro-Waisenhaus. Dazu hatte ich eine dritte Mannschaft eingeladen: die eines Jugendprojekts aus Moshi, von dem ich am Wochenende (in Dar es Salaam) in der Zeitung gelesen und mir über die Autorin den Kontakt besorgt hatte. Wir von Tuleeni reisten mit sechs Spielern, mehreren Kindern als Fans und zwei Erziehern an. Anders gesagt: Ab sofort weiß ich, dass in zwei normale Taxis problemlos jeweils acht Leute passen – ohne Fahrer.

Das unter einigen tiefen Löchern leidende, als solches aber immerhin klar abgegrenzte Spielfeld lag außerhalb Moshis. An einer Seite eine Wohnsiedlung, an der anderen Seite bewirtschaftete Felder und das Kilimanjaro-Massiv. Das Ambiente hatte schon mal was. Besonders toll war der enorme Zuspruch zu diesem kleinen improvisierten Turnier. Das Kilimanjaro-Waisenhaus hatte etwa 20 Spieler (alle in schicken, blauen Trikots) mitgebracht und der Jugendtreff mindestens genauso viele Kicker. Sie spielten in den leuchtend gelben Brasilien-Shirts von Pelé Sports. Wir traten diesmal übrigens in Arsenal-Trikots an. Der australische Volunteer Dominique hatte sie dem Waisenhaus geschenkt. Ich persönlich finde das überflüssig. Unsere Brasilien- und Spanien-Leibchen, die wir jedes Training nutzen, reichen völlig. Außerdem stehen die sehr exklusiven Arsenal-Trikots im krassen Gegensatz zum eher wenig exklusiven Alltag der Kinder hier.

Jedenfalls: Zu den vielen Spielern kamen bestimmt nochmal 50 Zuschauer aus der Siedlung und eine handvoll Volunteers, unter denen sich die Veranstaltung herumgesprochen hatte. Ich kann es gar nicht oft genug sagen: Das zu organisieren war letztlich einfach – und das Erlebnis einfach super. Auf der Rückfahrt flüsterte mir ein Spieler im Taxi zu: “I enjoyed it.” Und auch die sonst eher schweigsameren unter den Waisenhaus-Kindern sprachen auf der Rückfahrt in zusammenhängenden Hauptsätzen. So hatte ich sie noch nie erlebt.

Sportlich sorgte meine Mannschaft dafür, dass ich meinen Ehrgeiz eher durch Bocksprünge als durch voodooohafte Flüche ausleben konnte. Tuleeni gewann alle Spiele, wir kassierten kein einziges Gegentor. Aber ganz ehrlich: Im ersten Spiel war ich erschreckt, wie hoch mein Puls ging, egal ob gelungene oder misslungene Aktion. Ich ertappte mich mehrfach dabei, reflexartig Anweisungen ins Spielfeld zu rufen – wohlwissend, dass die Jungs maximal die Hälfte davon verstehen und es zumeist eh nichts bringt (siehe Guillotine). In den weiteren Spielen setzte ich mich deshalb zu Betreuern, Fans und Zuschauern an den Rand – und hielt selbigen auch.

Dieses Turnier wird einen Langzeiteffekt haben: Der Leiter der Jugendtreffs lud uns – also die Kili- und Tuleeni-Waisen – zu einem gemeinsamen Nachmittag ein. An diesem Nachmittag führen seine Kinder Theaterstücke sowie Tanz-, Akrobatik- und Gesangeinlagen für uns auf. Eine schöne Perspektive!

Meine Perspektive fürs Wochenende ist ebenfalls ausgezeichnet. Heute gehe ich nach Dienstschluss mit den Betreuerinnen und Kindern des Tuleeni-Waisenhauses schwimmen, sie haben mich gestern dazu eingeladen. Betreuerinnen und Kinder sind übrigens allesamt Nichtschwimmer. Morgen besuche ich das lokale Krankenhaus, übermorgen eine Kaffeeplantage am Fuße des Kilimanjaro.

 

Was zählt. Was bleibt.

Eigentlich hatte ich einen anderen Tagebucheintrag begonnen. Doch jetzt, wo die ganze Welt über Steve Jobs redet, möchte ich auch ein, zwei kurze Sätze anfügen. In einer sehr persönlichen Rede aus dem Jahr 2005 sagte Steve Jobs ein paar Dinge über Glück und Zufriedenheit, über die Liebe und über den Sinn des Lebens. Zum Beispiel, dass manchmal ein Schritt zurück unabdingbar sei, um später zwei Schritte nach vorn zu machen. Dass der Kampf eines jeden um Glück und Zufriedenheit und für die Liebe nie enden dürfe und Resignation immer der falscheste Weg sei. Dass das Leben zu kurz dafür sei, nicht auf sein Herz zu hören.

Ich habe auf mein Herz gehört. Ich kündigte meine Arbeitsstelle (ohne etwas Neues zu haben) und ging für zehn Wochen in Richtung unbekannt.

Vielleicht hatte Steve Jobs recht. Gestern hatte ich den unterschriebenen Vertrag meines neuen Arbeitgebers im Maileingang – hätte ich mir vor der Abreise etwas aussuchen dürfen, wäre es exakt dieser Job gewesen. Ich starte dort am 1.12. und bleibe in München. Ein Schritt zurück, zwei Schritte nach vorn.

Glück, Zufriedenheit? Meine tansanischen Arbeitskollegen nahmen mich auch heute Früh zur Begrüßung in den Arm, so wie jeden Tag. Der Gipfel des Kilimanjaro glänzte in der Morgensonne, ich sah ihn von meinem Bürofenster aus. Heute Abend findet das nächste von mir organisierte Fußballturnier mit Waisenkindern statt, jetzt schon mit drei Mannschaften. Das 17-jährige Massai-Mädchen J., das zwangsverheiratet und -beschnitten werden sollte und (um sie gefügig zu machen) mit Hilfe der Eltern vergewaltigt worden war, ist dank NAFGEM in Sicherheit und geht seit heute wieder zur Schule.

Und am 1. November kommt meine Frau Anna nach Tansania. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die zweimonatige Trennung unsere Liebe noch stärker gemacht hat. Uns bleiben hoffentlich noch ein paar Jahrzehnte, das zu schätzen und zu genießen.

Olaf

http://news.stanford.edu/news/2005/june15/jobs-061505.html

Auszüge:

(…)
During the next five years, I started a company named NeXT, another company named Pixar, and fell in love with an amazing woman who would become my wife. Pixar went on to create the worlds first computer animated feature film, Toy Story, and is now the most successful animation studio in the world. In a remarkable turn of events, Apple bought NeXT, I returned to Apple, and the technology we developed at NeXT is at the heart of Apple’s current renaissance. And Laurene and I have a wonderful family together.

I’m pretty sure none of this would have happened if I hadn’t been fired from Apple. It was awful tasting medicine, but I guess the patient needed it. Sometimes life hits you in the head with a brick. Don’t lose faith. I’m convinced that the only thing that kept me going was that I loved what I did. You’ve got to find what you love. And that is as true for your work as it is for your lovers. Your work is going to fill a large part of your life, and the only way to be truly satisfied is to do what you believe is great work. And the only way to do great work is to love what you do. If you haven’t found it yet, keep looking. Don’t settle. As with all matters of the heart, you’ll know when you find it. And, like any great relationship, it just gets better and better as the years roll on. So keep looking until you find it. Don’t settle.
(…)

When I was 17, I read a quote that went something like: “If you live each day as if it was your last, someday you’ll most certainly be right.” It made an impression on me, and since then, for the past 33 years, I have looked in the mirror every morning and asked myself: “If today were the last day of my life, would I want to do what I am about to do today?” And whenever the answer has been “No” for too many days in a row, I know I need to change something.

Remembering that I’ll be dead soon is the most important tool I’ve ever encountered to help me make the big choices in life. Because almost everything — all external expectations, all pride, all fear of embarrassment or failure – these things just fall away in the face of death, leaving only what is truly important. Remembering that you are going to die is the best way I know to avoid the trap of thinking you have something to lose. You are already naked. There is no reason not to follow your heart.

About a year ago I was diagnosed with cancer. I had a scan at 7:30 in the morning, and it clearly showed a tumor on my pancreas. I didn’t even know what a pancreas was. The doctors told me this was almost certainly a type of cancer that is incurable, and that I should expect to live no longer than three to six months. My doctor advised me to go home and get my affairs in order, which is doctor’s code for prepare to die. It means to try to tell your kids everything you thought you’d have the next 10 years to tell them in just a few months. It means to make sure everything is buttoned up so that it will be as easy as possible for your family. It means to say your goodbyes.

I lived with that diagnosis all day. Later that evening I had a biopsy, where they stuck an endoscope down my throat, through my stomach and into my intestines, put a needle into my pancreas and got a few cells from the tumor. I was sedated, but my wife, who was there, told me that when they viewed the cells under a microscope the doctors started crying because it turned out to be a very rare form of pancreatic cancer that is curable with surgery. I had the surgery and I’m fine now.

This was the closest I’ve been to facing death, and I hope it’s the closest I get for a few more decades. Having lived through it, I can now say this to you with a bit more certainty than when death was a useful but purely intellectual concept:

No one wants to die. Even people who want to go to heaven don’t want to die to get there. And yet death is the destination we all share. No one has ever escaped it. And that is as it should be, because Death is very likely the single best invention of Life. It is Life’s change agent. It clears out the old to make way for the new. Right now the new is you, but someday not too long from now, you will gradually become the old and be cleared away. Sorry to be so dramatic, but it is quite true.

Your time is limited, so don’t waste it living someone else’s life. Don’t be trapped by dogma — which is living with the results of other people’s thinking. Don’t let the noise of others’ opinions drown out your own inner voice. And most important, have the courage to follow your heart and intuition. They somehow already know what you truly want to become. Everything else is secondary.

When I was young, there was an amazing publication called The Whole Earth Catalog, which was one of the bibles of my generation. It was created by a fellow named Stewart Brand not far from here in Menlo Park, and he brought it to life with his poetic touch. This was in the late 1960’s, before personal computers and desktop publishing, so it was all made with typewriters, scissors, and polaroid cameras. It was sort of like Google in paperback form, 35 years before Google came along: it was idealistic, and overflowing with neat tools and great notions.

Stewart and his team put out several issues of The Whole Earth Catalog, and then when it had run its course, they put out a final issue. It was the mid-1970s, and I was your age. On the back cover of their final issue was a photograph of an early morning country road, the kind you might find yourself hitchhiking on if you were so adventurous. Beneath it were the words: “Stay Hungry. Stay Foolish.” It was their farewell message as they signed off. Stay Hungry. Stay Foolish. And I have always wished that for myself. And now, as you graduate to begin anew, I wish that for you.

Stay Hungry. Stay Foolish.

Lief so …

Vor vier Wochen wäre ich vielleicht noch wahnsinnig geworden. Jetzt habe ich Gelassenheit und Demut gelernt. Das ist aber nur eine Erkenntnis vom Wochenend-Trip nach Dar es Salaam, wo ich mit einem einheimischen Marathonprofi zum Laufen verabredet war.

Die erste Einsicht ereilte mich gleich am Samstagmorgen. “Die letzte Fähre um 15.45 Uhr nach Sansibar kriegen wir vermutlich eh nicht mehr”, sagten die drei Volunteers, die ich gleich nach meiner Ankunft in Moshi kennengelernt hatte und die zufällig im selben Bus wie ich nach Dar es Salaam saßen. Moment, dachte ich mir, es ist doch erst 7 Uhr und der Bus braucht nur fünf Stunden?! “Nein, wir fahren mindestens acht, eher neun Stunden”, offenbarten mir die drei Mädels. Woher hatte ich das bloß mit den fünf Stunden? Ich weiß es nicht, nur soviel war von da an klar: Den Samstag und Montag würde ich im Buckelpisten-Bus verbringen, in einer Haltung, die stark an jene Personen erinnert, die von der Feuerwehr aus Unfallfahrzeugen geschnitten werden müssen. Und das alles, um Sonntagmorgen in Dar es Salaam ein Stündchen mit einem Marathon-Profi (von dem ich nur Vornamen und Handynummer kannte) laufen zu gehen. Eine stimmungskillende Perspektive. Wenigstens saß neben mir im Bus der Gegenentwurf zu Reiner Calmund – eine Einheimische, die geradezu mikroskopisch klein war und offenbar ein Schweigegelübde abgelegt hatte. Ob Mädchen oder Frau, war die gesamten achteinhalb Stunden nicht auszumachen.

Ein spezieller Fall war auch der Taxifahrer am neun Kilometer außerhalb der Innenstadt von Dar es Salaam gelegenen Busbahnhof Ubungo. Dort ist für alle Überlandbusse Endstation. Wir hatten ihn von frechen 20.000 (10 Euro) auf die ortsüblichen, fairen 15.000 Schilling, also 7,50 Euro, heruntergehandelt. Als er im Auto erfuhr, dass er dafür erst die Mädchen absetzen und mich 500 Meter weiter herauslassen soll, wollte er für diese “zweite Tour” 5.000 Schilling kassieren und war davon partout nicht abzubringen. Also ging ich den Rest durch die verwinkelte Innenstadt zu Fuß – und verlief mich prompt… Das war aber kein Drama, weil ich so schon mal etwas von Dar es Salaam sah. Der erste Eindruck – der sich auch nicht mehr ändern sollte – war positiv. Besonders gut gefiel mir der Blick in die Bucht – endlich der Ozean! Und ich hatte mehr Autos und mehr Gehupe erwartet. Abends ging ich mit den Mädchen chinesisch essen. Die ersten Nudeln seit einem Monat. So endete der Tag doch noch versöhnlich. Die Nudeln sollten nicht meine einzige Tansania-Premiere bleiben: Das schöne Zimmer in meiner Unterkunft, das Lutheran Hostel am Fährhafen, verfügte über eine Dusche und einen Fernseher. Ohne Maßbecher zu duschen und zum Einschlafen Fernsehgucken – für mich in Tansania eine neue Erfahrung.

Sonntag. Der große Tag. Laufen gehen mit einem tansanischen Marathonprofi. Der vereinbarte Treffpunkt lag etwa zehn Kilometer nördlich von Dar es Salaam – in Örtchen Kawe und dort am Tanganijka Packers Ground. Vor der Haustür unseres Hostels gabelte ich einen Taxifahrer auf, der meinen aufgetüftelten Plan – hinfahren, zwei Stunden auf mich warten, einen verschwitzten Mzungo zurückfahren – akzeptierte. Der Tanganijka Packers Ground war einmal ein Industriegelände und ist heute nur noch eine karge Wiese, die mit ihrer Größe allerdings jeder deutschen Großstadt-Kirmes zur Ehre gereichen würde. Ich war um acht Uhr da und damit eine Stunde zu früh. So schlenderte ich trotz mehr als legerer Sportkleidung zu einem Freiluft-Gottesdienst in einer Ecke des Feldes. Vor der Bühne waren an die 2000 Stühle aufgebaut. Aus den Boxen dröhnte eine sich überschlagende Frauenstimme. Sie heizte den hunderten, ganz besonders festlich angezogenen Gottesdienstbesuchern ordentlich ein. Ich ging näher, um mich herum strömten die Besucher zu ihren Plätzen – so schien es. Dann wurde mir plötzlich klar: Ich bin MITTEN IM Gottesdienst. Denn die Gläubigen gingen nicht zu den Plätzen, sondern schritten auf und ab. Wild gestikulierend, im vehementen Zwiegespräch mit sich selbst, wie hypnotisiert von der fanatischen Stimme aus den Boxen. Und ich mittenmang im quietschblauen Laufdress, zudem der einzige Weiße. Peinlich. Nichts wie weg…

Um 8.45 Uhr schickte ich Boniface eine SMS mit der Nachricht, wo er mich genau finden würde. Seine Antwort ist legendär: You didn’t tell me you will come this morning. Du hast mir nicht gesagt, dass du an diesem Morgen kommen würdest. Auch vor einem tansanischen Gericht wären die Beweisaufnahme nach einer Minute und neun Sekunden beendet und das Urteil gesprochen: Über nichts anderes als diesen Morgen und diese Uhrzeit hatten wir seit zwei Wochen geredet!

Wären es nicht schon unglaublich heiß gewesen, hätte diese Nachricht bei mir für einen gewaltigen Hitzeausbruch gesorgt. Vielleicht war es doch kein Spaß, als Boniface Tage zuvor schrieb, er würde um 5.20 Uhr und nicht um 9 Uhr trainieren? Wie dem auch sei: Dafür sollte ich 17, 18 Stunden Busfahrt auf mich genommen und viel Geld ausgegeben haben? Gleich danach schickte Boniface aber noch eine SMS: alles kein Problem, er komme jetzt zum Treffpunkt. Da tat er schließlich auch – in Zivil! Er befinde sich nach einem Marathon in China gerade in einer Ruhephase, erklärte er mir sehr freundlich, aber ich solle doch mit ihm nach Hause kommen. Grotesk: So saß ich ohne Laufen gewesen zu sein, aber in Laufsachen bei einem Läufer im Wohnzimmer, dieser gekleidet in Cordhose und T-Shirt, um mich herum seine Verwandten. Hatte was von Zoo. Und der Affe war ich.

Afrika heißt, aus jeder Situation das Beste zu machen, und so verdrängte ich meine auch in dieser Situation absolut deplazierte Bekleidung und genoss das Privileg, in einer tansanischen Privathaus zu sitzen und mit einer einheimischen Familie zu reden. Natürlich drehte sich das Gespräch vor allem ums Laufen. Boniface ist 27 Jahre alt, wenig überraschend dünn und drahtig, seine Marathon-Bestzeit liegt bei 2:17 Stunden, er gehört zum Landeskader Tansanias. Über 100 Meter ist er übrigens 10,6 Sekunden gelaufen – auch nicht schlecht. Boniface ist ein Freund von Prosper, ebenfalls aus Tansania, den ich zuvor in München gegoogelt und getroffen hatte, um mir von ihm etwas über Land und Leute erzählen zu lassen. Auf die alles entscheidende Frage, warum Afrikaner so phantastische Läufer seien, hatte Boniface eine einleuchtende Antwort: Only God knows – das weiß nur Gott allein. Nach meiner Gottesdiensterfahrung vom Morgen verstand ich das gut. Was ich aber an harten Fakten herausbekam: Bonifaces Ruhepuls hat etwas mit dem Wirkungsradius von Klitschko-Gegnern gemeinsam.
Beschwingt, weil Boneface und ich uns trotz des ausgefallenen Laufens so gut verstanden haben, fuhr ich mit dem Taxi (mit Zwischenstopp Hotel und Dusche) an die Oyster Bay nördlich der City. Dort genoss ich so gut es eben ging den einzigen nicht strapaziösen Tag des Wochenendes. Erst mit einem Käse- und Gemüseteller in einem der besten Restaurants der Stadt (Waterfront House) sowie je zwei Kaffee und Cola Light plus Tageszeitung. Dann am Coco Beach. Als ich jemanden zum Aufpassen auf meine Wertsachen gefunden hatte, wagte ich mich aus dem schneeweißen Sand ins Wasser. Blöderweise griff ich beim Hineingleiten in etwas Stacheliges (autsch!). Da ich keine Badelatschen im Wasser trug, ich beim Verlassen des Meeres aber nicht unbedingt barfuß in einen Seeigel trampeln wollte, ließ ich mich von einem Kind mit Schwimmreifen bis ins ganz flache Wasser abschleppen. Wie ein gestrandeter Wal vor Neuseeland – halt nur in die andere Richtung. Klar, dass alle anderen Kinder feixten. Übrigens ist der Schwimmreifen-Verleih ein florierendes Geschäft. Kaum jemand hier kann schwimmen, aber alle wollen ins Meer!

Dem ersten Bier des Tages am Coco Beach folgten schließlich die Biere Nummer zwei und drei abends beim Premier-League-Spiel Tottenham gegen Arsenal. Kurz: ein Tag wie aus dem Bilderbuch.

Ach ja, das mit dem Laufen holen Boniface und ich nach, wenn ich Anfang November noch einmal in Dar bin.

Warum ich hier bin

Schon gestern war mir klar, dass ich heute etwas zum Thema Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen schreiben würde. Heute weiß ich, dass es tatsächlich keinen besseren Tag dafür geben kann. Doch der Reihe nach.

Mein “Hauptberuf” hier in Moshi ist nicht das Fußballspielen, sondern die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für “NAFGEM – Network Against Female Genital Mutilation”, das Netzwerk gegen

Aufklärung über Genitalverstümmelung mittels Horrorfilm

Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen. Von unserer Hauptverwaltung in Moshi aus betreuen wir zwei Regionen im Norden des Landes – Kilimanjaro und Manjara – und damit etwa 1,5 Millionen Menschen. “Betreuen”, das heißt Aufklärungsarbeit über die fatalen Folgen der Zwangsbeschneidung von Babys, Mädchen und Frauen zu leisten, Workshops für Ärzte, Lehrer oder ähnliche Berufsgruppen sowie Jugendcamps durchzuführen, öffentliche Veranstaltungen zu organisieren und vor allem Lobbyarbeit zu leisten. Letzteres funktioniert in einer streng hierarchischen Gesellschaft wie der Tansanias am besten, indem man die “Community Leader” hinter sich bringt. Diese einflussreichen Personen entscheiden, was opportun ist und was nicht.

Nun zu gestern. Da haben wir einen Infotag für 40 dieser Community Leader, darunter etwa ein Viertel Frauen, aus einer Region westlich von Moshi organisiert. Weil das Thema so ernst ist, lasse ich an dieser Stelle alle Anekdoten über bunte Socken, schrille Handyklingeltöne und meine roboterartig auf Kisuaheli vorgelesene Eigenvorstellung weg.

Denn: Am Ende dieses Vormittags zeigten wir das authentische Video einer Beschneidung, und dieses Video war sehr schockierend. Vier Erwachsene halten ein nacktes, etwa zweijähriges Mädchen fest und drücken es auf den Steinboden, zahlreiche Menschen stehen drumherum. Der Beschneider wetzt eine Rasierklinge an einem Stein. Dann ritzt er dem wie am Spieß schreienden, in keinster Form betäubten Kind zuerst einige Stammeszeichen in den Oberkörper. Das Blut wird immer wieder mit schmutzigem Wasser weggewaschen.

Danach folgt der eigentliche Akt der Beschneidung. Mit der Rasierklinge entfernt er dem inzwischen hysterischen Mädchen erst die Klitoris, dann die inneren Schamlippen. Kaum ein Schnitt klappt beim ersten Mal, er muss immer wieder ab- und neu ansetzen.

An dieser Stelle des Videos konnte ich endgültig nicht mehr hinschauen und schloss die letzte Lücke zwischen den Händen, die ich längst vor den Augen hatte. Furchtbar.

… und dennoch Alltag. In der Manjara-Region werden 70 Prozent aller Mä dchen und Frauen beschnitten.

Zu den Hintergründen erzählt meine NAFGEM-Kollegin Honorata etwas in dem Video, das ich auf dem YouTube-Kanal “TheButterbrod” bereitgestellt habe. In diesem Interview erläutert Honorata die unterschiedlichen Formen der Beschneidung, die Folgen für Körper und Seele der Opfer sowie die verschiedenen Gründe für das Praktizieren der Genitalverstümmelung. Beim Betrachten des Videos unbedingt Untertitel (“cc”) einschalten! Danke an dieser Stelle an K. und F. für ihre Hilfe! Die beiden können nichts für die ungünstigen Lichtverhältnisse beim Dreh …

Es war also eine Dienstveranstaltung der durchwachsenen Sorte. Einerseits haben mich das Interesse und vor allem die Bereitschaft der Local Leaders zur Kooperation gefreut. Andererseits hat mich das Video mitgenommen. Wir reden hier geradezu über Folter mit ganz schlimmen Kurz- und Langzeitfolgen für die Opfer. Angesichts dessen braucht mir niemand mit Tradition oder Kultur oder sonstwas anzukommen. Für solche Misshandlungen kann es keinen legitimen Grund geben.

Mit diesem düsteren “Gepäck” ging ich in den heutigen Tag. Und wie das häufiger im Leben der Fall ist, folgte auf den Regen die Sonne. Die ersten Strahlen erreichten uns in Form eines Anrufs.

Ein Mädchen sei auf einem Polizeirevier in der Nähe, sie habe erfahren, dass sie beschnitten werden soll und sei von Zuhause geflüchtet. Soviel Courage ist (verständlicherweise) noch immer die absolute Ausnahme. Wir schickten sofort einen Fahrer los, um das Mädchen abzuholen und es nach Moshi und damit in Sicherheit zu bringen.

Im NAFGEM-Büro stand J. dann am Nachmittag vor mir. Siebzehn Jahre, über 1,70 Meter groß, schlank, Haare kurz geschoren, in blauer Kapuzenjacke, nach einer schlaflosen Nacht übermüdet und auch hungrig, schüchtern, aber durchaus freundlich und aufgeschlossen. Ich mochte ihr keine persönlichen Fragen zu dem stellen, was ihr widerfahren (und erspart geblieben) ist, und so brachte ich sie einfach mit ein paar Scherzen zum Lächeln. J. wird dieses Wochenende an einem sicheren Ort sein, am Montag kümmern wir uns um einen Platz an einer Secondary School und eine Unterkunft. Das kommende Schuljahr zahlt ein amerikanisches Ärzte-Ehepaar. Es war heute bei uns zu Besuch, um über Formen der Zusammenarbeit mit NAFGEM zu sprechen. Die beiden – Leah und Charles – haben das Drama hautnah mitbekommen und sich spontan entschlossen, das Schulgeld für J. zu übernehmen.

Morgen früh fahre ich nach Dar es Salaam. “Viel zu sehen gibt es hier nich”, antworte eine Volonärin auf meine per SMS geäußerte Bitte um eine kleine Stadtführung. Na denn. Montag mache ich nach der Rückkehr aus “Dar” – so sagt man hier im allgemeinen – mit meinen Kisuaheli-Stunden weiter. Denn die zweite Einheit war besser als die erste. Ich habe mir sogar ein paar Wörter gemerkt. Zum Beispiel die schöne Zahl vier – “nne” (sprich: nä). Oder das Wort “juma” für den “Tag”. Dienstag ist – ganz einfach, wenn man’s erstmal weiß – juma nne (= “Tag vier”). Tag eins ist also der Samstag (juma amosi). Laut unserem Lehrer gehe das auf die Bibel zurück. War mir bisher nicht bekannt. Nach Tag zwei (Sonntag, juma pili), Tag drei (Montag, juma tatu), Tag vier und Tag fünf (Mittwoch, juma tano) fallen der Donnerstag und Freitag etwas aus der Reihe. Sie heißen nicht Tag sechs (juma sita) und Tag sieben (juma saba), sondern Alhamisi und ijumaa. Und genau das war dann auch der Moment, wo sich die beiden Affen in meinem Kopf wieder gegenseitig den Rücken gekratzt haben…

Ich verstehe nur station ya treini

Schließt man Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis und zeigt diese Geste seinem Gegenüber, ist das je nach Situation und Kulturkreis ein Kompliment oder eine handfeste Provokation. In Tansania ist es ein Kompliment – gut gemacht! Doch hier gibt es auch Gesten, die eine spezielle Bedeutung haben – und vor allem eine andere als in der “westlichen Welt”. Continue reading “Ich verstehe nur station ya treini”

Freischwimmer

Was für ein wundervoller Sonntag. Meine beiden Erfolgserlebnisse gestern haben den eher frustrierenden Samstag mit der geplatzten Kilimanjaro-Wanderung mehr als wettgemacht.

Nachdem ich das erste Mal überhaupt ausschlafen konnte, ein tolles Frühstück mit Sandwiches, Omelett und Gebäck serviert bekam und morgens keinerlei Verpflichtungen hatte, fuhr ich in die Stadt. Dort stieß ich mehr zufällig auf ein Internet-Cafe, das über eine sensationelle Verbindung verfügt. Selbst Skype mit eingeschaltetem Bild klappte perfekt. Ein Traum.

Denn sonst ist mein Alltag hier geprägt von Stromausfall, extrem langsamen oder gar nicht funktionierenden Internetverbindungen und Ladezeiten, die jeder Beschreibung spotten. Das Anhängen von Texten oder 1MB-Bildern ist oft eine schier unüberwindbare Hürde und frisst mehr Zeit und Energie als ein Marathonlauf.

Und so erklärt sich, warum ich einen Zwei-Stunden-Aufenthalt in einem abgedunkelten Internet-Café mit Fug und Recht zu einem “Erfolgserlebnis” hochjubele. Endlich funktioniert mal was “ganz normal”.

Für Außenstehende ist das zweite Erfolgserlebnis schon eher nachvollziehbar. Vom Internet-Café ging ich in das Schwimmbad des YMCA Moshi. Dort aalte ich mit Marei und Lisa, zwei überaus freundlichen und lustigen Volunteers aus den nordrhein-westfälischen Millionen-Metropolen Radevormwald und Hückelhoven, bis zum Sonnenuntergang am Pool. Wir quatschten, planten Ausflüge, verwöhnten uns mit Kaffee und Kuchen und schwammen auch ein paar Bahnen, allerdings im Oma-morgens-um-sieben-im-Hallenbad-Brustschwimm-Stil, um weitertratschen zu können. Herrlich. Zuhause habe ich dann noch das Buch “Die Zahl der Toten” von Linda Castillo zuende gelesen, das den ziemlich verworrenen Nele-Neuhaus-Schinken “Mordsfreunde” deutlich geschlagen hat. Da ich nur diese beiden Bücher mitgenommen habe, gehe ich die Tage in die lokale Bücherei, um nach neuem Lesestoff Ausschau zu halten.

Heute hat der Arbeitstag mit einer kleinen Sporteinheit begonnen. Darum hatte mich der NAFGEM-Chef unvermittelt gebeten. Ich habe die Kollegen das gelehrt, was ich als Einziges beim Yoga halbwegs beherrsche: den Baum. Ihr seht, hier geht es bei allem Ernst, den das Thema Genitalverstümmelung gebietet, auch lustig zu. Wir haben viel Spaß miteinander, ich werde bestens mit Kaffee versorgt und jeden Tag ist jemand Anderes an der Reihe, Leckereien zu spendieren. “Dazwischen” planen wir Veranstaltungen wie Aufklärungs-Workshops und -Camps zum Thema Genitalverstümmelung, machen uns Gedanken über Sponsoren-Akquise und über lokales Networking oder bereiten Informationen über dieses komplexe Thema verständlich auf. Mal für “die westliche Welt”, mal für die Menschen vor Ort, die über die fatalen Folgen der Genitalverstümmelung aufgeklärt werden sollen.

Wie der heutige Tag enden wird, weiß ich auch schon: mit meiner ersten Unterrichtseinheit in Kisuaheli. Ich habe beschlossen, für die restliche Zeit in Tansania jeweils an zwei Abenden in der Woche (Montag und Mittwoch) Sprachunterricht zu nehmen. Die Gelegenheit dafür kommt sobald nicht wieder, und ich empfinde es (ohne an die Integrationsdebatte in Deutschland anknüpfen zu wollen, Gott bewahre) auch als Zeichen von Respekt meinen Gastgebern gegenüber, wenn ich mich bemühe, ihre Sprache zu lernen. Weil ich dienstags und donnerstags Fußball spiele, ist die Woche damit voll und ich komme erledigt heim. Das ist auch gut so. Denn die Alternative dazu ist, nach dem Abendbrot in meinem Zimmer auf dem Bett zu liegen und zu lesen oder (in glücklichen Momenten) im Internet zu surfen. Nur: Dafür muss man nicht nach Tansania fliegen. Dann schon lieber Sprachunterricht.

Darf’s ein bisschen mehr sein…?

“It’s Africa”. Wie oft habe ich das von den Einheimischen gehört, wenn mal wieder der Strom ausfiel oder 30 Leute wie Käfighennen in ein Daladala gequetscht wurden statt der vorgesehenen 16. Es klang immer ein wenig entschuldigend, dieses von einem gequälten Schulterzucken begleitete “It’s Africa”. Dabei finde ich das Unplanbare, Ungewöhnliche gerade inspirierend. Nur heute, da weiß ich nicht so recht, was ich davon halten soll.

Ich hatte geplant, die erste Etappe der so genannten Coca-Cola-Route auf den Kilimanjaro zu wandern. Der Name erklärt sich von selbst: Die Route ist so frequentiert wie der Eingangsbereich einer Thalia-Buchhandlung am Erstverkaufstag eines Harry-Potter-Bandes. Unser bestellter Taxifahrer war pünktlich. Unterwegs fiel ihm ein, dass das Benzin ja so teuer geworden sei und er statt des ohnehin fürstlichen (leider nicht von mir vereinbarten) Lohns von 40.000 Tansanischen Schilling (20 Euro) nun für eine Strecke bitte 50.000 Schilling bekäme. Am Marangu Gate, wo die Coca-Cola-Harry-Potter-Route beginnt, erfuhren wir dann den Eintrittspreis für die Tageswanderung: satte 60 US-Dollar – plus 40.000 Schilling für den obligatorischen Guide.

Gut: Ich hatte 60 US-Dollar bar dabei. Weniger gut: Bezahlen ging ausschließlich mit Kreditkarte. Schlecht: Ich hatte die Kreditkarte zuhause gelassen und mein Vorschlag, es “African Style” zu regeln – Zahlen ohne Quittung, die Kassierer stecken die 60 Dollar privat ein und ich darf hinein – wurde erstaunlicherweise abgelehnt. Seltsam, zum Beispiel bei Bußgeldern für (reale oder von Polizisten aus Gründen der Gehaltsaufbesserung erfundene) Verkehrsverstöße klappt die private Begleichung an Staatsbedienstete ausgezeichnet. Dass Einheimische am Marangu Gate nur 1.500 Schilling (also 75 Cent) Eintritt zahlen, war für mich angesichts meines Zugangsverbots nicht mehr als eine Fußnote.

Also hieß es, mal wieder zu improvisieren. Derselbe Guide namens Beatus, der uns auch auf der 8-Stunden-Wanderung begleitet hätte, führte uns stattdessen über Bananen- und Avocado-Plantagen sowie durch zwei, drei kleine Dörfer. “Ist doch besser, als auf der ersten Kili-Etappe acht Stunden durch Waldgebiet zu laufen und dabei den Kilimanjaro überhaupt nicht zu sehen”, sagte Beatus und zeigte auf den mächtigen Gipfel des Bergmassivs, der in der Morgensonne schimmerte. Das klang vernünftig, und so fand ich es gar nicht mehr so schlimm, dass sich der Tagesablauf spontan geändert hatte.

Als wir an den schönen Marangu-Wasserfällen ankamen und Beatus merkte, dass wir hier lange verweilen, in der Sonne sitzen und den plantschenden Jugendlichen zuschauen wollten, machte er sich aus dem Staub. Dass er für zwei Stunden Spaziergang statt acht Stunden Bergauf-Bergab-Wandern nur 35.000 Schilling statt der vereinbarten 40.000 bekam, dürfte er verschmerzt haben. Zurück nach Moshi fuhren wir dann mit dem Daladala – für 1.500 Schilling. Vielleicht wäre das auch eine gute idee für die Hinfahrt gewesen.

Ums kurz zu machen: Heute ärgere ich mich das erste Mal über das, was in den Unterlagen der mich vermittelnden Organisation als “Geschäftssinn” der Einheimischen bezeichnet wird. Ich habe kein Problem damit, mehr als “Locals” zu bezahlen. Erst recht nicht, wenn die Leistung stimmt, etwa eine Mahlzeit toll schmeckt (das tut sie immer) oder mir mal wieder bei einem Technikproblem aus der Patsche geholfen wird. Aber abgezockt zu werden ist kein besonders schönes Gefühl.

Um mit dem Tag doch noch ins Reine zu kommen, habe ich mir im besten Café Moshis einen “echten”, starken, schwarzen Kaffee sowie eine Cola Light (denn die gibt’s dort!) gegönnt und dazu die Tageszeitung gelesen. Hat funktioniert.

Für gute Laune bei mir sorgte auf dem Heimweg dann auch ein herumlümmelnder Junge. Auf seinem T-Shirt stand auf Deutsch “Held der Arbeit”. Schönen Gruß an die Altkleidersammlung daheim. Getoppt wurde das nur noch von einem Mädchen aus dem Tuleeni-Waisenhaus bei meinem ersten Fußballtraining. “Blonde, but not stupid” – Blond, aber nicht blöd – stand auf ihrem knallpinken T-Shirt. Das wollte nicht so recht zu ihrem krausen, pechschwarzen Haar passen.

Für die verbleidende Zeit hier sollte ich mir vielleicht auch ein T-Shirt zulegen: “Mzungo, but not stupid” – “Weißer, aber nicht blöd”. Morgen im Schwimmbad habe ich einen ganzen Tag lang Zeit, diese Idee weiterzuverfolgen…